dilaraer
09-10-08, 03:09
In der boomenden türkischen Popmusik verschmelzen westliche Stile und orientalische Traditionen. Auf der Musikmesse Popkomm steht sie dieses Jahr im Mittelpunkt.
Tarkan zwingt sich zu einem Lächeln. "Heute vergessen wir unsere Sorgen!", ruft er. "Heute lassen wir den Bauchnabel sprechen." Die Fans vergraben ihre Hände in den Taschen. "Ich will euch tanzen sehen!" Der Superstar wirft seinen Kopf in den Nacken. Der Bass setzt ein. Die Mädchen am Bühnenrand klatschen zaghaft. "Come on Istanbul! Mehr Leidenschaft!"
Tarkan Tevetoglu, der erfolgreichste Musiker der Türkei, hadert. Einige tausend Zuschauer sind zu seinem Konzert am Goldenen Horn in Istanbul gekommen - doch weniger als erwartet. Noch vor wenigen Jahren wäre das undenkbar gewesen. Tarkan, aufgewachsen in Alzey in Rheinhessen, war nicht nur ein Popstar. Seine Fans verehrten ihn wie einen Heiligen. Millionenfach verkauften sich seine Alben, er veränderte das Land. Er brach mit dem Bild des türkischen Machos und erschloss mit türkischwestlicher Popmusik einen Weltmarkt. Nicht zuletzt dank seines Kuss-Hits "Simarik" erhielt er 1999 einen World Music Award.
Doch Tarkan ruhte sich aus. Er ist jetzt 35 Jahre alt, längst drängen seine Nachfolger ins Rampenlicht. Eine neue Ära in der türkischen Popmusik hat begonnen: Zahlreiche junge Künstler ringen um Aufmerksamkeit und Plattenverträge. Es herrscht Aufbruch- und Umbruchstimmung, wie im gesamten Land.
Einer der neuen Stars ist Murat Boz, 28. Er trägt Jeans, Baseball-Kappe, Drei-Tage-Bart. "Tarkan hat uns gezeigt, dass wir es mit Mut und Ehrgeiz zu etwas bringen können in der Welt", sagt er. Fünf Jahre hat Boz als Background-Sänger für Tarkan gearbeitet. 2006 brachte er seine erste eigene Single heraus. Sie ähnelt in Ausdruck und Machart dem Stil Tarkans, doch wirkt Boz' Musik jugendlicher und moderner. "Tarkan hat Popmusik in der Türkei großgemacht", sagt Boz, "wir müssen sie weiterentwickeln."
Im Frühjahr war der Sänger aus Karadeniz Eregli am Schwarzen Meer auf Deutschland-Tournee. Er hat in Nürnberg gespielt und in Berlin. Zu den Konzerten seien anders als früher nicht nur Deutsch-Türken erschienen. "Da waren auch viele deutsche Pop-Fans", sagt Boz. Die Szene boomt. Mehr als eine Million Alben pro Jahr exportieren türkische Künstler inzwischen nach Deutschland. Fatih Akins Film "Crossing the Bridge" über den Sound von Istanbul hat den Trend vor drei Jahren deutlich verstärkt.
Den Hype um die Musik vom Bosporus wollen jetzt auch die Veranstalter der Popkomm nutzen. Auf der internationalen Musikmesse im Oktober in Berlin wird die Türkei Partnerland sein. "Das musikalische Potential der Türkei ist gewaltig. Wir erwarten ein Feuerwerk", sagt Popkomm-Chef Ralf Kleinhenz. Kaum ein Land habe sich in den vergangenen Jahren so rasant entwickelt wie die Türkei. "Pop, Rock, HipHop. Da kommt einiges auf uns zu", verspricht Kleinhenz. Zur Eröffnung der Messe soll Sezen Aksu singen, die große alte Dame der türkischen Popmusik.
Was zählt sind Leidenschaft und Persönlichkeit. Vorhandene Stilformen sind dafür da, sich daraus zu bedienen. Alles ist Fusion, Crossover; das passt zum Lebensgefühl. Junge Türken wollen sich nicht entscheiden, als was sie sich bezeichnen sollen, als europäisch oder als asiatisch. Nach ihrem Verständnis sind sie beides zugleich - je nach Bedarf. Die Kultur drückt genau das aus: In der Musik verschmelzen Orient und Okzident, Tradition und Moderne. Der Sound von Istanbul ist eine Melange aus perlenden Tonkaskaden der Kastenzither, britischen Elektro-Beats, melancholischen Rohrflöten und dem Gesang greiser syrischer Hirten.
Der Musiker Mercan Dede blickt von der Dachterrasse seiner Istanbuler Wohnung auf den Bosporus, die Hagia Sophia und hinüber nach Asien. "Ich habe die beiden Gesichter Istanbuls, das europäische und das anatolische, jeden Tag vor mir", sagt er. Dede gilt als Meister der Verschmelzung. Niemandem gelingt die Kombination elektronischer Sounds und morgenländischer Rhythmen besser als ihm. Bei seinen Auftritten in Ankara, Tokio, New York lässt er Derwische in schillernden Gewändern zu Drum'n'Bass tanzen. Er selbst steht am Plattenteller, scratcht oder spielt Flöte.
"Wir Künstler nehmen den gesellschaftlichen Wandel vorweg. Wir überwinden die alten Gräben", sagt Dede. Auf seinen Konzerten feiern Punks neben Frauen mit Kopftuch, Muslime neben jungen Hedonisten. "Die Politiker spalten das Land, wir versöhnen es mit sich selbst." Dede redet schnell, gelegentlich spricht er sogar die Interpunktion mit. Er lebt in Istanbul und in Montreal, seit Jahren reist er von Konzert zu Konzert, von Kontinent zu Kontinent. Von einem Kampf der Kulturen will er nichts wissen: "Ich habe gelernt, mit mehreren Identitäten umzugehen. Das Gleiten zwischen Sprachen und Kulturen ist ein Geschenk."
Der Wandel, von dem Mercan Dede spricht, wird im Istanbuler Szene-Viertel Beyoglu besonders deutlich: Der Stadtteil hat sich in der Vergangenheit immer wieder neu erfunden. Griechen, Juden und Armenier lebten hier, bis Nationalisten sie 1955 vertrieben. Beyoglu verkam zu einem Slum. Doch jetzt sind die Künstler zurück: Musiker, Grafiker, Modemacher ziehen in die alten Jugendstilhäuser am Goldenen Horn. Beyoglu ist das Herz einer neuen Generation türkischer Musiker und Intellektueller.
Belkis Boyacigiller hat ihr Büro in Beyoglu. Die junge Türkin führt das Babylon, den wichtigsten Musik-Club der Stadt. Neben vielen türkischen Künstlern präsentiert das Babylon auch Stars aus dem Ausland: Patti Smith trat hier vor einem Jahr auf, Grandmaster Flash kommt im November. Boyacigiller ist in Los Angeles geboren und aufgewachsen; vor vier Jahren kehrte sie in das Heimatland ihrer Eltern zurück. "In Istanbul ist gerade alles möglich. Es herrscht eine gewaltige Aufbruchstimmung", sagt sie. Noch vor drei Jahren hätte sie sich schwergetan, namhafte Musiker an den Bosporus zu locken. Mittlerweile sei das anders.
Die Konzerte im Babylon sind auch wochentags ausverkauft. In den Clubs tanzen Frauen zu schnellen Drum'n'Bass-Rhythmen - Lucky Strike im Mund, Gin Tonic in der Hand, Lebensgier in den Augen. "Schaut auf diese Land!", sagt Boyacigiller. "Die Türkei ist so jung und so dynamisch, wandelt sich so atemraubend. Es geht gerade erst los."
Der Club Babylon gehört der Musikfirma Pozitif. Sie betreibt auch ein Label und hat viele erfolgreiche türkische Musiker unter Vertrag - darunter die Indie-Rockband Replikas und die Oriental-Dub-Formation Baba Zula. Die Macher von Baba Zula arrangieren Folklore und Psychedelic und stehen damit wie kaum eine andere Band für die Verbindung von altem türkischen Liedgut und modernen Klängen. "Die Rückbesinnung auf die eigene Kultur ist in der Türkei ein relativ neues Phänomen", sagt die Journalistin und Musik-Kritikerin Burçak Belli.
Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk kappte 1923 die Bande zur Vergangenheit. Für den Zerfall des Reiches machte er die Osmanen verantwortlich - ihre Religion, ihre Tradition, ihre Kultur. Atatürks Nachfolger setzten alles daran, die osmanische Geschichte aus dem Gedächtnis zu löschen. So wie es ein Dreivierteljahrhundert lang keine Kurden, Armenier, Aleviten geben sollte, so sollte es auch deren Musik nicht geben. Erst die Öffnung hin zu Europa hat auch eine Öffnung innerhalb der Türkei ermöglicht. Bands wie Baba Zula bedienen sich eines reichen kulturellen Erbes. Sie lassen die Musik lange verfolgter Minderheiten erklingen, die Musik ihrer Urgroßväter. "Das Beste, was wir als Künstler tun können, ist mit Musik die Perspektiven zu verändern", sagt Baba-Zula-Frontmann Murat Ertel.
Tatsächlich sind in der Türkei in den vergangenen Jahren viele Tabus gefallen. Kurdische Musiker müssen nicht länger fürchten, verhaftet zu werden, wenn sie Lieder in ihrer Muttersprache singen. Junge Türken haben für die Ideologien und Verbote ihrer Eltern meist nicht mehr viel übrig.
"Die Alten blicken zurück, wir blicken nach vorn", sagt die 20-jährige Rapperin Esin Iris. Jeden Morgen fährt sie mit der Fähre von Europa, wo sie lebt, nach Asien, wo sie arbeitet. Ihr Studio liegt im konservativen Istanbuler Stadtteil Üsküdar. Im Hof sitzen alte Männer auf Schemeln und trinken Tee, Frauen in schwarzen Schleiern hasten durch das Treppenhaus. Die blaugetünchten Wände im Studio sind mit Graffiti bemalt. Aus den Boxen dröhnt französischer HipHop. "Ich klau das Beste aus jeder Welt", sagt Iris.
Sie war elf, als sie begann, sich für HipHop zu interessieren. Mit 14 nahm sie ihren ersten eigenen Song auf. Ihre Eltern misstrauten der neuen Musik aus Amerika, also übte Iris lange heimlich. Heute tritt sie in den großen Clubs der Stadt auf. Sie gehört zur Gruppe um den Superstar Ceza. Der Istanbuler Rapper ist einer der wenigen in der Branche, der ausschließlich von seiner Musik leben kann.
"HipHop ist den Türken immer noch recht fremd. Doch das wird sich ändern", sagt Iris. Sie studiert Deutsch an der Marmara-Universität; in ihren Liedern singt sie von der großen Liebe ebenso wie von der großen Politik. Leicht hatte sie es als eine der wenigen Frauen in dem Männer-Business HipHop nicht. "Ich musste anfangs viel einstecken, aber ich kann mich wehren", sagt sie. Längst ist Iris in der Szene respektiert. "Die Musik ist dem Land einfach voraus."
http://www.spiegel.de/spiegelspecial/0,1518,581305,00.html
Tarkan zwingt sich zu einem Lächeln. "Heute vergessen wir unsere Sorgen!", ruft er. "Heute lassen wir den Bauchnabel sprechen." Die Fans vergraben ihre Hände in den Taschen. "Ich will euch tanzen sehen!" Der Superstar wirft seinen Kopf in den Nacken. Der Bass setzt ein. Die Mädchen am Bühnenrand klatschen zaghaft. "Come on Istanbul! Mehr Leidenschaft!"
Tarkan Tevetoglu, der erfolgreichste Musiker der Türkei, hadert. Einige tausend Zuschauer sind zu seinem Konzert am Goldenen Horn in Istanbul gekommen - doch weniger als erwartet. Noch vor wenigen Jahren wäre das undenkbar gewesen. Tarkan, aufgewachsen in Alzey in Rheinhessen, war nicht nur ein Popstar. Seine Fans verehrten ihn wie einen Heiligen. Millionenfach verkauften sich seine Alben, er veränderte das Land. Er brach mit dem Bild des türkischen Machos und erschloss mit türkischwestlicher Popmusik einen Weltmarkt. Nicht zuletzt dank seines Kuss-Hits "Simarik" erhielt er 1999 einen World Music Award.
Doch Tarkan ruhte sich aus. Er ist jetzt 35 Jahre alt, längst drängen seine Nachfolger ins Rampenlicht. Eine neue Ära in der türkischen Popmusik hat begonnen: Zahlreiche junge Künstler ringen um Aufmerksamkeit und Plattenverträge. Es herrscht Aufbruch- und Umbruchstimmung, wie im gesamten Land.
Einer der neuen Stars ist Murat Boz, 28. Er trägt Jeans, Baseball-Kappe, Drei-Tage-Bart. "Tarkan hat uns gezeigt, dass wir es mit Mut und Ehrgeiz zu etwas bringen können in der Welt", sagt er. Fünf Jahre hat Boz als Background-Sänger für Tarkan gearbeitet. 2006 brachte er seine erste eigene Single heraus. Sie ähnelt in Ausdruck und Machart dem Stil Tarkans, doch wirkt Boz' Musik jugendlicher und moderner. "Tarkan hat Popmusik in der Türkei großgemacht", sagt Boz, "wir müssen sie weiterentwickeln."
Im Frühjahr war der Sänger aus Karadeniz Eregli am Schwarzen Meer auf Deutschland-Tournee. Er hat in Nürnberg gespielt und in Berlin. Zu den Konzerten seien anders als früher nicht nur Deutsch-Türken erschienen. "Da waren auch viele deutsche Pop-Fans", sagt Boz. Die Szene boomt. Mehr als eine Million Alben pro Jahr exportieren türkische Künstler inzwischen nach Deutschland. Fatih Akins Film "Crossing the Bridge" über den Sound von Istanbul hat den Trend vor drei Jahren deutlich verstärkt.
Den Hype um die Musik vom Bosporus wollen jetzt auch die Veranstalter der Popkomm nutzen. Auf der internationalen Musikmesse im Oktober in Berlin wird die Türkei Partnerland sein. "Das musikalische Potential der Türkei ist gewaltig. Wir erwarten ein Feuerwerk", sagt Popkomm-Chef Ralf Kleinhenz. Kaum ein Land habe sich in den vergangenen Jahren so rasant entwickelt wie die Türkei. "Pop, Rock, HipHop. Da kommt einiges auf uns zu", verspricht Kleinhenz. Zur Eröffnung der Messe soll Sezen Aksu singen, die große alte Dame der türkischen Popmusik.
Was zählt sind Leidenschaft und Persönlichkeit. Vorhandene Stilformen sind dafür da, sich daraus zu bedienen. Alles ist Fusion, Crossover; das passt zum Lebensgefühl. Junge Türken wollen sich nicht entscheiden, als was sie sich bezeichnen sollen, als europäisch oder als asiatisch. Nach ihrem Verständnis sind sie beides zugleich - je nach Bedarf. Die Kultur drückt genau das aus: In der Musik verschmelzen Orient und Okzident, Tradition und Moderne. Der Sound von Istanbul ist eine Melange aus perlenden Tonkaskaden der Kastenzither, britischen Elektro-Beats, melancholischen Rohrflöten und dem Gesang greiser syrischer Hirten.
Der Musiker Mercan Dede blickt von der Dachterrasse seiner Istanbuler Wohnung auf den Bosporus, die Hagia Sophia und hinüber nach Asien. "Ich habe die beiden Gesichter Istanbuls, das europäische und das anatolische, jeden Tag vor mir", sagt er. Dede gilt als Meister der Verschmelzung. Niemandem gelingt die Kombination elektronischer Sounds und morgenländischer Rhythmen besser als ihm. Bei seinen Auftritten in Ankara, Tokio, New York lässt er Derwische in schillernden Gewändern zu Drum'n'Bass tanzen. Er selbst steht am Plattenteller, scratcht oder spielt Flöte.
"Wir Künstler nehmen den gesellschaftlichen Wandel vorweg. Wir überwinden die alten Gräben", sagt Dede. Auf seinen Konzerten feiern Punks neben Frauen mit Kopftuch, Muslime neben jungen Hedonisten. "Die Politiker spalten das Land, wir versöhnen es mit sich selbst." Dede redet schnell, gelegentlich spricht er sogar die Interpunktion mit. Er lebt in Istanbul und in Montreal, seit Jahren reist er von Konzert zu Konzert, von Kontinent zu Kontinent. Von einem Kampf der Kulturen will er nichts wissen: "Ich habe gelernt, mit mehreren Identitäten umzugehen. Das Gleiten zwischen Sprachen und Kulturen ist ein Geschenk."
Der Wandel, von dem Mercan Dede spricht, wird im Istanbuler Szene-Viertel Beyoglu besonders deutlich: Der Stadtteil hat sich in der Vergangenheit immer wieder neu erfunden. Griechen, Juden und Armenier lebten hier, bis Nationalisten sie 1955 vertrieben. Beyoglu verkam zu einem Slum. Doch jetzt sind die Künstler zurück: Musiker, Grafiker, Modemacher ziehen in die alten Jugendstilhäuser am Goldenen Horn. Beyoglu ist das Herz einer neuen Generation türkischer Musiker und Intellektueller.
Belkis Boyacigiller hat ihr Büro in Beyoglu. Die junge Türkin führt das Babylon, den wichtigsten Musik-Club der Stadt. Neben vielen türkischen Künstlern präsentiert das Babylon auch Stars aus dem Ausland: Patti Smith trat hier vor einem Jahr auf, Grandmaster Flash kommt im November. Boyacigiller ist in Los Angeles geboren und aufgewachsen; vor vier Jahren kehrte sie in das Heimatland ihrer Eltern zurück. "In Istanbul ist gerade alles möglich. Es herrscht eine gewaltige Aufbruchstimmung", sagt sie. Noch vor drei Jahren hätte sie sich schwergetan, namhafte Musiker an den Bosporus zu locken. Mittlerweile sei das anders.
Die Konzerte im Babylon sind auch wochentags ausverkauft. In den Clubs tanzen Frauen zu schnellen Drum'n'Bass-Rhythmen - Lucky Strike im Mund, Gin Tonic in der Hand, Lebensgier in den Augen. "Schaut auf diese Land!", sagt Boyacigiller. "Die Türkei ist so jung und so dynamisch, wandelt sich so atemraubend. Es geht gerade erst los."
Der Club Babylon gehört der Musikfirma Pozitif. Sie betreibt auch ein Label und hat viele erfolgreiche türkische Musiker unter Vertrag - darunter die Indie-Rockband Replikas und die Oriental-Dub-Formation Baba Zula. Die Macher von Baba Zula arrangieren Folklore und Psychedelic und stehen damit wie kaum eine andere Band für die Verbindung von altem türkischen Liedgut und modernen Klängen. "Die Rückbesinnung auf die eigene Kultur ist in der Türkei ein relativ neues Phänomen", sagt die Journalistin und Musik-Kritikerin Burçak Belli.
Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk kappte 1923 die Bande zur Vergangenheit. Für den Zerfall des Reiches machte er die Osmanen verantwortlich - ihre Religion, ihre Tradition, ihre Kultur. Atatürks Nachfolger setzten alles daran, die osmanische Geschichte aus dem Gedächtnis zu löschen. So wie es ein Dreivierteljahrhundert lang keine Kurden, Armenier, Aleviten geben sollte, so sollte es auch deren Musik nicht geben. Erst die Öffnung hin zu Europa hat auch eine Öffnung innerhalb der Türkei ermöglicht. Bands wie Baba Zula bedienen sich eines reichen kulturellen Erbes. Sie lassen die Musik lange verfolgter Minderheiten erklingen, die Musik ihrer Urgroßväter. "Das Beste, was wir als Künstler tun können, ist mit Musik die Perspektiven zu verändern", sagt Baba-Zula-Frontmann Murat Ertel.
Tatsächlich sind in der Türkei in den vergangenen Jahren viele Tabus gefallen. Kurdische Musiker müssen nicht länger fürchten, verhaftet zu werden, wenn sie Lieder in ihrer Muttersprache singen. Junge Türken haben für die Ideologien und Verbote ihrer Eltern meist nicht mehr viel übrig.
"Die Alten blicken zurück, wir blicken nach vorn", sagt die 20-jährige Rapperin Esin Iris. Jeden Morgen fährt sie mit der Fähre von Europa, wo sie lebt, nach Asien, wo sie arbeitet. Ihr Studio liegt im konservativen Istanbuler Stadtteil Üsküdar. Im Hof sitzen alte Männer auf Schemeln und trinken Tee, Frauen in schwarzen Schleiern hasten durch das Treppenhaus. Die blaugetünchten Wände im Studio sind mit Graffiti bemalt. Aus den Boxen dröhnt französischer HipHop. "Ich klau das Beste aus jeder Welt", sagt Iris.
Sie war elf, als sie begann, sich für HipHop zu interessieren. Mit 14 nahm sie ihren ersten eigenen Song auf. Ihre Eltern misstrauten der neuen Musik aus Amerika, also übte Iris lange heimlich. Heute tritt sie in den großen Clubs der Stadt auf. Sie gehört zur Gruppe um den Superstar Ceza. Der Istanbuler Rapper ist einer der wenigen in der Branche, der ausschließlich von seiner Musik leben kann.
"HipHop ist den Türken immer noch recht fremd. Doch das wird sich ändern", sagt Iris. Sie studiert Deutsch an der Marmara-Universität; in ihren Liedern singt sie von der großen Liebe ebenso wie von der großen Politik. Leicht hatte sie es als eine der wenigen Frauen in dem Männer-Business HipHop nicht. "Ich musste anfangs viel einstecken, aber ich kann mich wehren", sagt sie. Längst ist Iris in der Szene respektiert. "Die Musik ist dem Land einfach voraus."
http://www.spiegel.de/spiegelspecial/0,1518,581305,00.html